Die Entwicklung psychischer Beeiträchtigungen

Bindungsstörung

Bindung und Urvertrauen

Ein ganzheitlicher Blick

In der heutigen Gesellschaft werden psychische Beeinträchtigungen zunehmend offener thematisiert. Doch wie entstehen sie, und warum haben sie oft ihre Wurzeln in der Kindheit und Jugend? In diesem Artikel wollen wir das komplexe Zusammenspiel zwischen frühen Erfahrungen, Bindungspersonen und den Auswirkungen auf das Erwachsenenleben beleuchten. Dabei werden wir alltägliche Situationen heranziehen, um die Theorie greifbar zu machen.

Die Grundlagen: Bindung und Urvertrauen

Bereits im frühen Kindesalter lernen wir von unseren Bindungspersonen, wie wir mit den Herausforderungen des Lebens umgehen können. Diese ersten Erfahrungen prägen unser Urvertrauen und unser Gefühl der Sicherheit. Wenn ein Kind in einem liebevollen und stabilen Umfeld aufwächst, entwickelt es eine positive Grundhaltung gegenüber sich selbst und der Welt. Es lernt, dass seine Bedürfnisse berechtigt sind und dass es geliebt wird.

Beispiel: Ein Kind, das regelmäßig von seinen Eltern umarmt und gelobt wird, entwickelt ein gesundes Selbstwertgefühl und die Zuversicht, dass es in schwierigen Zeiten Unterstützung erhält.

Fehlt jedoch diese liebevolle Zuwendung, kann das Kind ein Gefühl der Unsicherheit entwickeln. Es lernt, dass seine Bedürfnisse nicht wichtig sind, und zieht sich zurück, um den Bindungspersonen nicht zur Last zu fallen. In jedem Fall dient diese Überlebensstrategie aus der Wahrnehmung des Kindes heraus dazu, Gefahren von sich abzuwenden und als abhängiges Kind nicht mehr versorgt zu werden. Sozusagen ein InstinktivesVerhalten, da es natürlich als Kind noch keine Referenzen hat, auf das es sich beziehen kann.

Diese Strategie mag kurzfristig Stabilität schaffen, führt aber langfristig zu Schwierigkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung. Beispielhaft führt dies dazu, dass der erwachsene Mensch mit einem großen Anteil seiner Aufmerksamkeit damit beschäftigt ist, die Umwelt und die sozialen Kontakte nach potentiellen Gefahren für sich selbst zu scannen. Um Sicherheit aus eigener Wahrnehmung heraus zu erlangen strebt er folgerichtig auch dazu, möglichst viele Situationen zu kontrollieren. Ein überaus anstrengender Lebensweg.

Die Folgen: Schwierigkeiten im Erwachsenenleben

Ein Erwachsener, der in seiner Kindheit gelernt hat, seine Bedürfnisse zu ignorieren, steht oft vor großen Herausforderungen. Diese Person kann Schwierigkeiten haben, in Beziehungen ihre eigenen Wünsche klar zu kommunizieren. Stattdessen wird sie möglicherweise versuchen, den Erwartungen anderer gerecht zu werden, auch wenn das zu einem Gefühl der inneren Leere führt.

Alltagsbeispiel: Stellen wir uns eine Frau vor, die in ihrer Kindheit häufig für das emotionale Wohl ihrer Eltern verantwortlich war. Im Erwachsenenalter könnte sie in einer Beziehung immer wieder ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um den Partner nicht zu belasten, und dabei selbst unglücklich werden.
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Das Spannungsfeld zwischen Kindheit und Erwachsenenleben

Das Spannungsfeld, in dem sich solche Menschen bewegen, ist oft sehr herausfordernd. Sie haben zwar ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein entwickelt, doch in kritischen Situationen können alte, kindliche Verhaltensmuster aktiviert werden. Emotionale Reaktionen überlagern dann rationale Überlegungen, was zu impulsiven Entscheidungen führen kann.

Beispiel: Ein erfolgreicher Geschäftsmann, der gelernt hat, keine Schwäche zu zeigen, könnte in stressigen Situationen plötzlich mit Wutausbrüchen reagieren, die er nicht versteht und nicht kontrollieren kann.

Die Suche nach Erfüllung

Zusätzlich zu den vorgenannten Schwierigkeiten haben viele Erwachsene, die in ihrer Kindheit nicht gelernt haben, mit ihren Bedürfnissen umzugehen, ein starkes Bedürfnis nach Leistung. Sie streben nach Erfolg, um die innere Leere zu füllen und die Anerkennung zu erhalten, die sie in der Kindheit vermisst haben – oder die mit der Leistung erfolgreich erreichte Anerkennung und Wertschätzung. Daneben wird oft nur auf die Leistung geschaut und nicht auf die Persönlichkeit, den Menschen selbst.

Alltagsbeispiel: Ein Karriereorientierter, der ständig Überstunden macht und sich auf der Arbeit aufopfert, könnte feststellen, dass er trotz finanziellen Erfolgs innerlich unzufrieden bleibt. Die Suche nach Bestätigung und Erfolg wird zur zentralen Lebensaufgabe, während die eigenen Bedürfnisse ins Hintertreffen geraten.

Die Herausforderung der Selbstwahrnehmung

Eine der größten Hürden für Menschen, die in ihrer Kindheit nicht gelernt haben, mit ihren Emotionen umzugehen, besteht darin, eine innere Distanz zu entwickeln. Sie identifizieren sich stark mit ihren Gedanken und Gefühlen, was es ihnen erschwert, diese objektiv zu betrachten und zu bewerten. Die Persönlichkeit, die sich an Gefühlen und Gedanken definiert – also mit ihnen fusioniert –, hat nur wenig Gelegenheit, aus einer inneren, sich selbst beobachtenden Position heraus zu agieren. Diese Menschen haben Schwierigkeiten, handlungsfähig zu werden und ihre Gedanken und Gefühle aus einer inneren Sicherheit heraus zu bewerten.

Beispiel: Ein Mensch, der in der Vergangenheit oft kritisiert wurde, könnte in einer neuen Situation sofort negative Gedanken über sich selbst hegen, ohne sie zu hinterfragen. Diese inneren Stimmen beeinflussen dann sein Verhalten und seine Entscheidungen. Hier entsteht also die Gegenüberstellung von Reaktion auf Gedanken und Gefühle oder die Aktion in der Betrachtung und der aktiven selbstwirksamen Bewertung aus dem Moment der inneren Sicherheit.

Ausdruck psychischer Störungen

Die Prägung aus der Kindheit kann sich auf unterschiedliche Weisen in psychischen Störungen zeigen. Menschen mit solchen Erfahrungen neigen oft zu Angststörungen, Depressionen sowie zu Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie können auch unter einem geringen Selbstwertgefühl leiden und haben oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Ihre emotionale Reaktivität kann stark ausgeprägt sein, was zu Burnout oder emotionalen Ausbrüchen führen kann.

Beispiel: Eine Person könnte in sozialen Situationen übermäßig schüchtern sein, aus Angst, nicht akzeptiert zu werden, oder sie könnte in Beziehungen immer wieder Konflikte heraufbeschwören, weil sie nicht gelernt hat, ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren.

Der Weg zur Heilung

Die Entwicklung psychischer Beeinträchtigungen ist ein komplexer Prozess, der in der Kindheit beginnt und sich bis ins Erwachsenenalter zieht. Es ist wichtig, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu werden, um alte Muster zu erkennen und neue Wege zu finden. Therapeutische Unterstützung kann helfen, alte Wunden zu heilen und ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen.
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Beispielhafte therapeutische Strategie

Eine vielversprechende therapeutische Strategie besteht darin, den Klienten dabei zu unterstützen, die gemachten Erfahrungen aus der Vergangenheit als Teil ihres Lebens zu integrieren, statt sie auszulöschen zu wollen. Diese Problematik der Fokussierung mit dem Wunsch, die Erfahrung zu eliminieren, ist auch ein oft verwendeter therapeutischer Irrtum. Sie generiert keine Lösungsorientiertheit und verhilft dem Klienten nicht dazu, eigene lebenswerte und Herzenswünsche zu entwickeln und Schritte dorthin zu entdecken.

Durch Achtsamkeit kann der Klient lernen, im Hier und Jetzt zu leben. Diese Praxis hilft, vergangene Erfahrungen zu erkennen und zu akzeptieren, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Achtsamkeit bietet den einzigen Ort, an dem die Klienten gestaltend und selbstwirksam in ihr Leben eingreifen können.

Indem sie lernen, aus ihrer Persönlichkeit heraus, ihre Gedanken und Gefühle zu beobachten und selbstwirksam zu bewerten, ohne sich mit ihnen so intensiv zu identifizieren, können sie ein inneres ganz eigenes Wertesystem entwickeln und so ein Gefühl der inneren Orientierung finden. So können sie nicht nur ihre Persönlichkeit stärken, sondern auch einen gesunden Umgang mit ihren Bedürfnissen und Emotionen erlernen, was sie zu einem erfüllten und selbstbestimmten Leben führt.

Quellen

  1. Bindungstheorie:

    • Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss: Volume I. Attachment. New York: Basic Books.
    • Ainsworth, M. D. S. (1978). Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
  2. Verhaltenstherapie:

    • Beck, A. T. (1976). Cognitive Therapy and the Emotional Disorders. New York: Penguin Books.
  3. Systemische Therapie:

    • Minuchin, S. (1974). Families and Family Therapy. Cambridge, MA: Harvard University Press.
  4. Humanistische Therapie:

    • Rogers, C. R. (1961). On Becoming a Person: A Therapist’s View of Psychotherapy. Boston: Houghton Mifflin.
  5. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl:

    • Neff, K. D. (2011). Self-Compassion: The Proven Power of Being Kind to Yourself. New York: William Morrow.