Psychische Erkrankung, gesellschaftliche Teilhabe und der GdB – wie alles zusammenhängt
Was bedeutet Teilhabe – und warum ist sie so wichtig für psychisch erkrankte Menschen?
In einer Gesellschaft mitzuwirken, zu arbeiten, sich zu bilden, soziale Beziehungen zu pflegen – all das gehört zur sogenannten gesellschaftlichen Teilhabe. Doch für viele Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind diese Dinge nicht selbstverständlich. Depressionen, Angststörungen, Traumafolgestörungen oder Schizophrenien können tiefgreifend in das Leben eingreifen – oft über Jahre. Was viele nicht wissen: Entscheidend für den Grad der Behinderung (GdB) ist nicht primär die Diagnose, sondern die Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
Was ist die ICF – und wie hilft sie beim Verstehen von Behinderung?
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt genau diesen Teilhabebegriff in den Mittelpunkt. Sie betrachtet Gesundheit nicht nur unter dem Aspekt von Krankheiten, sondern im bio-psycho-sozialen Modell: Was kann der Mensch noch tun – und wo ist er eingeschränkt?
Laut dem Verband der Ersatzkassen (vdek) [¹] ist der zentrale Nutzen der ICF ihre strukturierte Herangehensweise: Sie zerlegt funktionale Gesundheit in vier Hauptbereiche:
1. Körperfunktionen/-strukturen (z. B. Konzentration, Schlaf, Affektregulation)
2. Aktivitäten (z. B. selbstständig einkaufen, Termine wahrnehmen)
3. Partizipation (z. B. im Berufsleben bestehen, soziale Beziehungen pflegen)
4. Kontextfaktoren (z. B. unterstützendes Umfeld oder Barrieren)
Diese Perspektive wird heute u. a. im SGB IX und in der Rehabilitations-Richtlinie gesetzlich verankert – und immer häufiger auch bei der Feststellung des GdB berücksichtigt.
Psychische Erkrankung ≠ Behinderung – oder doch?
Nicht jede psychische Erkrankung führt zu einer Behinderung im Sinne des Gesetzes. Entscheidend ist, wie stark die Erkrankung den Alltag einschränkt. Ein Beispiel:
Eine depressive Episode kann phasenweise auftreten und sich zurückbilden – oder sie kann über Jahre andauern und dazu führen, dass der Mensch seinen Beruf verliert, Kontakte meidet, keine Kraft mehr für Selbstversorgung hat.
Solche Einschränkungen betreffen verschiedene ICF-Domänen: die Aktivität, die Partizipation und häufig auch die psychischen Körperfunktionen.
Wie wird der GdB festgestellt – und wer braucht den Befundbericht?
Der Grad der Behinderung (GdB) wird durch die Versorgungsämter auf Antrag festgestellt. Maßgeblich sind die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) sowie die darin enthaltenen GdB-Tabellen. Bei psychischen Störungen wird z. B. differenziert zwischen leichten, mittelgradigen und schweren Störungen – mit GdB-Werten zwischen 20 und 100.
Um diese Einschätzung vorzunehmen, benötigt das Amt Befundberichte – häufig von:
• Psychotherapeut:innen
• Ärzt:innen (z. B. Psychiater:innen, Hausärzt:innen)
• Kliniken oder Reha-Einrichtungen
Diese Fachkräfte sind gebeten, neben der Diagnose auch Auswirkungen auf die Teilhabe konkret zu beschreiben – idealerweise unter Bezug auf die ICF.
Fazit: Teilhabe ist der Schlüssel zur GdB-Einschätzung
Die ICF bringt einen Paradigmenwechsel: Weg von einer rein medizinischen Diagnosebetrachtung – hin zur Frage: Was kann dieser Mensch noch selbstständig tun? Gerade bei psychischen Erkrankungen zeigt sich, wie bedeutsam dieses Verständnis ist. Ein GdB von 50 oder mehr kann z. B. zu einem Schwerbehindertenausweis führen – und damit zu Nachteilsausgleichen und besseren Chancen auf Unterstützung im Alltag und Beruf.
Ein sorgfältiger Befundbericht, der die ICF-Kriterien berücksichtigt, ist deshalb nicht nur ein „Formular fürs Amt“, sondern ein wichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Teilhabe.
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Quellen:
[¹] vdek – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF): https://www.vdek.com/vertragspartner/vorsorge-rehabilitation/icf.html
[²] Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR): https://www.bar-frankfurt.de/themen/icf.html
[³] BfArM – ICF-Klassifikation (deutsche Ausgabe): https://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/Klassifikationen/icf.html