Überlebensstrategien und Selbstwert: Die Herausforderungen von Vernachlässigung in der Kindheit
Viele junge Erwachsene, die in ihrer Kindheit Vernachlässigung erfahren haben, stehen heute vor großen Herausforderungen. Über Jahre hinweg lebten sie oft ohne stabile Beziehungen zu Bezugspersonen, was dazu führte, dass sie eigene Überlebensstrategien entwickeln mussten. Diese Strategien haben ihnen damals geholfen, doch im Erwachsenenleben erweisen sie sich oft als hinderlich.
Ein häufiges Muster, das bei diesen Klienten zu beobachten ist, ist die Definition ihres Selbstwerts durch das, was sie für andere tun. Ob sie nun für andere sorgen, sie beschützen oder versuchen, Konflikte zu entschärfen – ihr Wert wird an ihren Handlungen gemessen und nicht an ihrem inneren Wesen. Dies kann zu einer Überreaktion führen, die sich in Aggression oder sogar Gewalt äußert. Die damit verbundene Ratlosigkeit über den eigenen Selbstwert ist kennzeichnend. Kritik an ihrem Verhalten wird schnell als persönliche Attacke wahrgenommen, was zu einem starken Bedürfnis führt, sich zu verteidigen.
Ein zentrales Problem ist die mangelhafte Beziehung zu sich selbst. Viele Klienten haben nie gelernt, wie sie mit ihren eigenen Gefühlen und Gedanken umgehen können. Sie haben Schwierigkeiten, sich selbst zu bestätigen und ihr eigenes Wertgefühl unabhängig von äußeren Meinungen zu entwickeln. Diese innere Leere und Unsicherheit erschwert nicht nur die Beziehung zu sich selbst, sondern auch zu anderen. Eine gesunde, emanzipierte Beziehung zu einem Partner ist oft nicht möglich, wenn das Fundament des Selbstwerts brüchig ist.
Im ICD-10 finden wir Diagnosen, die häufig mit diesen Erfahrungen einhergehen, wie zum Beispiel die Anpassungsstörungen (F43.2) oder die emotionalen Störungen (F93). Diese Diagnosen spiegeln wider, wie tief die Auswirkungen von Vernachlässigung in der Kindheit in das Leben eines Menschen eingreifen können.
Eine sinnvolle Therapie für Menschen mit solchen Hintergründen sollte integrativ und individuell gestaltet sein. Methoden wie die Gesprächstherapie nach Rogers, traumatherapeutische Ansätze (z.B. EMDR) und ressourcenzentrierte Therapie können helfen, die verloren gegangene Beziehung zu sich selbst wieder aufzubauen. Ziel ist es, ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln, das nicht von der Meinung anderer abhängt.
Die Therapie sollte idealerweise über einen längeren Zeitraum stattfinden, um den Klienten ausreichend Zeit zu geben, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und neue Beziehungsmuster zu erlernen. Ein wöchentlicher oder zweiwöchentlicher Rhythmus über mehrere Monate oder sogar Jahre ist oft sinnvoll. Wichtig ist, dass die Klienten in ihrem eigenen Tempo vorankommen können und sich sicher fühlen, um an ihren inneren Themen zu arbeiten.
Der Weg zur Selbstakzeptanz und zu einer stabilen, gesunden Beziehung zu sich selbst ist herausfordernd, aber er ist auch ein Weg zu mehr Lebensqualität und innerer Zufriedenheit. Indem wir die Wurzeln der eigenen Unsicherheiten erkennen und uns auf die Reise zu einem gesunden Selbstwertgefühl begeben, können wir die Ketten der Vergangenheit sprengen und ein erfülltes Leben führen.